T 0641/00 (Zwei Kennungen/COMVIK) 26-09-2002
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I. Bei einer Erfindung, die aus einer Mischung technischer und nichttechnischer Merkmale besteht und als Ganzes technischen Charakter aufweist, sind in bezug auf die Beurteilung des Erfordernisses der erfinderischen Tätigkeit alle Merkmale zu berücksichtigen, die zu diesem technischen Charakter beitragen, wohingegen Merkmale, die keinen solchen Beitrag leisten, das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit nicht stützen können.
II. Die zu lösende technische Aufgabe ist zwar nicht so zu formulieren, daß sie Lösungsansätze enthält oder die Lösung teilweise vorwegnimmt, doch scheidet ein Merkmal nur deshalb, weil es im Anspruch vorkommt, nicht automatisch für die Formulierung der Aufgabe aus. Insbesondere wenn der Anspruch auf eine Zielsetzung auf einem nichttechnischen Gebiet verweist, darf diese Zielsetzung bei der Formulierung der Aufgabe als Teil der Rahmenbedingungen für die zu lösende technische Aufgabe aufgegriffen werden, insbesondere als eine zwingend zu erfüllende Vorgabe.
erfinderische Tätigkeit (verneint)
Aufgabe-Lösungs-Ansatz: Behandlung nichttechnischer Aspekte
Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent Nr. 0 579 655 betrifft digitale Mobiltelefonsysteme und insbesondere die Verwendung einer Chipkarte mit Mehrfachkennung für Einzelbenutzer als Teilnehmer- Kennungsmodul in einer Mobileinheit eines Systems vom GSM-Typ. Das Patent, das den 12. April 1991 als Prioritätstag beansprucht, wurde der Beschwerdeführerin am 5. März 1997 erteilt.
II. Am 4. und 5. Dezember 1997 legten die Beschwerdegegnerinnen wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit Einsprüche gegen das Patent ein und legten als Entgegenhaltung unter anderem das Referat von G. Mazziotto "The Subscriber Identity Module for the European Digital Cellular System GSM" vor, das auf dem "Fourth Nordic Seminar on Digital Mobile Radio Communications DMR IV" vom 26. bis 28. Juni 1990 in Oslo, Norwegen veröffentlicht worden war (Druckschrift D8).
Die mit der Prüfung der Einsprüche beauftragte Einspruchsabteilung befand, daß Chipkarten mit Mehrfachkennung aus dem Stand der Technik bekannt seien und daß es für einen Fachmann naheliegend sei, zur Verbesserung der Kennungsauswahl in digitalen Mobiltelefonnetzen solche Karten beispielsweise in Netzen des in D8 offenbarten Typs zu verwenden. Das Patent wurde daraufhin wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit widerrufen; die Entscheidung wurde am 13. April 2000 zur Post gegeben.
III. Gegen die Widerrufsentscheidung legte die Beschwerdeführerin am 9. Juni 2000 Beschwerde ein und entrichtete am selben Tag die Beschwerdegebühr. Am 11. August 2000 wurde die Beschwerdebegründung eingereicht.
IV. Im August 2000 erhob ein Dritter Einwendungen nach Artikel 115 EPÜ und zog als weitere Entgegenhaltung die europäische Patentschrift EP-B-0 344 989 an (deren A-Schrift 1989 veröffentlicht worden war).
V. In einer mündlichen Verhandlung am 17. Januar 2002 wurde der fragliche Sachverhalt mit den Vertretern diskutiert. Während der Anhörung reichte die Beschwerdeführerin als Haupt- und als Hilfsantrag zwei geänderte Fassungen des Anspruchs 1 mit folgendem Wortlaut ein:
Hauptantrag: "1. Verfahren in einem digitalen Mobiltelefonsystem des GSM-Typs, bei dem Teilnehmereinheiten (MS) durch ein Teilnehmer-Kennungsmodul (SIM) gesteuert werden, dadurch gekennzeichnet, daß dem Teilnehmer-Kennungsmodul (SIM) zumindest zwei wahlweise verwendbare Kennungen (IMSI 1, IMSI 2) zugeteilt sind, deren Daten in einem Standortverzeichnis des Systems gespeichert werden, wobei zu einem Zeitpunkt jeweils nur eine Kennung (IMSI 1 oder IMSI 2) aktiviert sein kann und der Benutzer bei Benutzung einer Teilnehmereinheit (MS) von der Teilnehmereinheit aus wahlweise die gewünschte Kennung im Standortverzeichnis aktiviert, wobei die wahlweise Aktivierung zur Aufteilung der Gebühren zwischen dienstlichen und privaten Anrufen oder zwischen verschiedenen Benutzern herangezogen wird."
Hilfsantrag: "1. Verfahren in einem digitalen Mobiltelefonsystem des GSM-Typs, bei dem Teilnehmereinheiten (MS) durch ein Teilnehmer-Kennungsmodul (SIM) gesteuert werden, dadurch gekennzeichnet, daß dem Teilnehmer-Kennungsmodul (SIM) zumindest zwei wahlweise verwendbare Kennungen (IMSI 1, IMSI 2) zugeteilt sind, deren Daten in einem Standortverzeichnis des Systems gespeichert werden, wobei der Benutzer bei Benutzung einer Teilnehmereinheit (MS) von der Teilnehmereinheit aus wahlweise die gewünschte Kennung im Standortverzeichnis aktiviert und - gesteuert durch das Standortverzeichnis (HLR) des Teilnehmers - bei wahlweiser Aktivierung einer Kennung (IMSI 1 oder IMSI 2), die eine Kennungsänderung bedingt, die frühere Kennung deaktiviert wird, und dabei - gesteuert durch die Daten im Standortverzeichnis - ein eingehender Ruf der aktivierten Kennung zugeleitet wird, wobei die wahlweise Aktivierung vom Standortverzeichnis zur Aufteilung der Gebühren zwischen dienstlichen und privaten Anrufen oder zwischen verschiedenen Benutzern herangezogen wird."
Die mündliche Verhandlung wurde mit der Beendigung der sachlichen Debatte geschlossen.
VI. Die Beschwerdeführerin machte geltend, das GSM-Telefonsystem aus dem Stand der Technik offenbare kein Teilnehmer-Kennungsmodul bzw. keine Karte mit Mehrfachkennung für Einzelteilnehmer. Die aus dem Stand der Technik bekannten Multiservice-Karten eigneten sich nicht für den diesbezüglichen Gebrauch in GSM-Netzen. Außerdem könne die notwendige Funktionalität des Systems nicht gewährleistet werden, ohne das Standortverzeichnis des Netzes im Sinne der Erfindung zu ändern.
Das Verdienst des Erfinders sei es, das wirtschaftliche und verwaltungstechnische Problem bestimmter Teilnehmer erkannt zu haben, daß nämlich die Aufteilung der Gebühren auf verschiedene Kategorien von Anrufen für ein und denselben Teilnehmer Mehraufwand verursache. Bis zum Zeitpunkt der Erfindung sei jedem Teilnehmer immer nur eine Kennung in Form einer einzigen persönlichen Kennungsnummer IMSI zugeteilt worden.
Daher sei ein völlig neuer Ansatz beim Kennungsverfahren in einem GSM-System notwendig gewesen, um dies zu ändern. Es habe nicht genügt, mehr als eine Kennung in das SIM aufzunehmen. Vielmehr habe der Erfinder eine Lösung dafür finden müssen, das System entsprechend der gewünschten Kennung wahlweise zu aktivieren und einen eingehenden Anruf der aktivierten Kennung zuzuleiten. Der angezogene Stand der Technik sage über all diese Merkmale der Erfindung nichts aus.
VII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage der in der mündlichen Verhandlung am 17. Januar 2002 vorgelegten Ansprüche des Haupt- bzw. des Hilfsantrags und, falls die Entgegenhaltung EP-A-0 344 989 als relevant für die Patentierbarkeit angesehen werde, die Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung.
Die Beschwerdegegnerinnen beantragten ihrerseits, die Beschwerde zurückzuweisen und die Angelegenheit nicht an die erste Instanz zurückzuverweisen.
VIII. Die Beschwerdegegnerinnen brachten verschiedene Einwände gegen die geänderten Ansprüche vor: Die Vergabe zweier oder mehrerer Kennungen an ein und denselben Teilnehmer zum Zweck der Aufteilung der Gebühren zwischen dienstlichen und privaten Anrufen oder zwischen verschiedenen Benutzern sei eine Frage des kommerziellen und administrativen Managements eines GSM-Systems und kein technisches Merkmal des Telefonnetzes oder seiner Infrastruktur. Kommerzielle bzw. administrative Ideen und Konzepte seien jedoch nichts Technisches und könnten einem Gegenstand daher weder Neuheit noch erfinderische Tätigkeit verleihen; eine solche Definition vernebele vielmehr die technischen Aspekte einer Erfindung. Gegen das Patent in seiner geänderten Form sprächen also dieselben Gründe, die die Einspruchsabteilung schon für den Widerruf angeführt habe.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet, da die beanspruchte Erfindung nach Artikel 52 (1) und 56 EPÜ wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit nicht patentierbar ist.
2. Artikel 56 lautet in der englischen Fassung: "An invention shall be considered as involving an inventive step if, having regard to the state of the art, it is not obvious to a person skilled in the art." Die gleichermaßen verbindlichen Fassungen in französischer und deutscher Sprache sind noch etwas aussagekräftiger und besagen, daß eine Erfindung als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend gilt, wenn sie sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt.
3. Die rechtliche Definition von Artikel 56 EPÜ ist im Zusammenhang mit den anderen Patentierbarkeitserfordernissen der Artikel 52 bis 57 EPÜ zu sehen, die als allgemeine Grundsätze enthalten, daß Erfindungen auf allen technischen Gebieten dem Patentschutz zugänglich sind (siehe z. B. Singer/Stauder: "Europäisches Patentübereinkommen", Artikel 52, Abschnitt 2 und dortige Verweise) und daß eine Erfindung im Sinne des EPÜ technischen Charakter aufweisen muß (siehe z. B. Entscheidung T 931/95 - Steuerung eines Pensionssystems/PBS PARTNERSHIP (ABl. EPA 2001, 441)).
4. Ausgehend von diesem Ansatz ist es zulässig, daß ein Anspruch eine Mischung aus technischen Merkmalen und "nichttechnischen" Merkmalen aufweist (d. h. Merkmalen, die sich auf Nichterfindungen im Sinne von Artikel 52 (2) EPÜ beziehen), selbst wenn die nichttechnischen Merkmale überwiegen. So wurde in T 26/86 - Röntgeneinrichtung/KOCH & STERZEL (ABl. EPA 1988, 19) eine Mischung technischer und nichttechnischer Merkmale grundsätzlich auch dann als patentierbar angesehen, wenn der technische Anteil an der Erfindung nicht der überwiegende ist. Sonst wäre nämlich laut Begründung der Kammer "die gesamte Lehre dem Patentschutz nicht zugänglich ..., wenn der überwiegende Teil der Lehre nichttechnischer Natur ist, und zwar auch dann, wenn der nach der Gewichtung untergeordnete technische Teil der Lehre für sich bewertet neu und erfinderisch wäre" (siehe Nr. 3.4 der Entscheidungsgründe). Die Kammer ließ also zwar zu, daß eine Mischung technischer und nichttechnischer Merkmale beansprucht wurde, legte der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit jedoch nur den technischen Teil der Erfindung zugrunde.
5. Anknüpfend an die allgemeine Auslegung von Artikel 56 im Kontext des EPÜ und insbesondere in Übereinstimmung mit Regel 27 EPÜ haben die Beschwerdekammern ferner als Test dafür, ob eine Erfindung die Erfordernisse von Artikel 56 EPÜ erfüllt, den sogenannten "Aufgabe-Lösungs-Ansatz" entwickelt und angewandt (siehe die EPA-Publikation "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts", 4. Aufl., 2002, S. 117 ff.), wonach eine Erfindung als Lösung einer technischen Aufgabe zu verstehen ist. Dieser Ansatz erfordert die Bestimmung des technischen Gebiets der Erfindung (das auch das Fachgebiet des für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit maßgebenden Fachmanns sein muß), die Ermittlung des nächstliegenden Stands der Technik auf dem Gebiet, die Feststellung der technischen Aufgabe, die in bezug auf diesen nächstliegenden Stand der Technik als gelöst gelten kann, und schließlich die Beurteilung der Frage, ob das bzw. die technischen Merkmale, die einzeln oder zusammen die beanspruchte Lösung darstellen, sich für den Fachmann auf dem Gebiet als Ganzes in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergeben.
Beim Aufgabe-Lösungs-Ansatz gilt, daß die Aufgabe eine technische sein muß, daß sie durch die beanspruchte Erfindung auch tatsächlich gelöst werden muß, daß alle Merkmale des Anspruchs zur Lösung beitragen sollen und daß es sich um eine Aufgabe handeln muß, die einem Fachmann des betreffenden technischen Gebiets am Prioritätstag zur Lösung angetragen werden könnte. Der englische Begriff "problem" ist in diesem Zusammenhang nicht dahingehend zu verstehen, daß die Lösung zwangsläufig mit großen Schwierigkeiten verbunden ist; er bedeutet lediglich, daß der Fachmann mit einer Aufgabe im Sinne von "task" konfrontiert wird.
Entspricht eine Aufgabe in der gewählten Formulierung den vorstehend genannten Bedingungen nicht, so ist sie in der Regel neu zu formulieren. Es gibt auch Fälle, in denen die beanspruchten Merkmale in zwei oder mehr Merkmalsgruppen fallen, wobei jede Gruppe der Lösung einer bestimmten technischen Aufgabe dient, die nicht mit der von den anderen Gruppen gelösten technischen Aufgabe zusammenhängt. In diesem Fall ist für jede Merkmalsgruppe gesondert zu prüfen, ob sie als Lösung der jeweiligen Aufgabe naheliegt (siehe z. B. Entscheidung T 470/95, nicht im ABl. EPA veröffentlicht). Kann aus der Anmeldung keine technische Aufgabe abgeleitet werden, so liegt keine Erfindung im Sinne von Artikel 52 EPÜ vor (siehe Entscheidung T 26/81, ABl. EPA 1982, 211).
6. Ein Merkmal ist ferner ohne Belang für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit, wenn es nicht durch eine technische Wirkung zur Lösung irgendeiner technischen Aufgabe beiträgt.
So wurde in T 158/97 - Treating electrical conductive fluid/IBBOTT festgestellt, daß eine Veränderung einer bekannten Vorrichtung ohne Bezug zu einer technischen Funktion nicht zur erfinderischen Tätigkeit beitragen könne (ähnlich T 72/95 - Ionizing liquid/IBBOTT, T 157/97 - Ionizing fluids/IBBOTT und T 176/97 - Ionizing fluid/IBBOTT, alle nicht im ABl. EPA veröffentlicht). In T 27/97 - Cryptographie à clés publiques/FRANCE TELECOM (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) ließ die jetzige Kammer (in anderer Besetzung) bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ein Merkmal, durch das sich der beanspruchte Gegenstand vom Stand der Technik unterschied, außer acht, weil keine kausal dem Merkmal zuzuschreibende technische Wirkung belegt war.
Diese Bewertung steht nach Auffassung der Kammer voll und ganz in Einklang mit dem allgemeinen Erfordernis, daß eine Erfindung technischen Charakter aufweisen muß, woraus sich der Schluß ergibt, daß eine Erfindung im Sinne von Artikel 52 EPÜ nur aus den Merkmalen bestehen kann, die zu diesem technischen Charakter beitragen.
7. Die Formulierung der technischen Aufgabe sollte nicht auf Sachverhalte Bezug nehmen, von denen der Fachmann nur aufgrund der nun beanspruchten Lösung Kenntnis erlangen konnte. Sind in die Aufgabenformulierung unzulässigerweise nachträgliche Erkenntnisse aus der Lösung eingeflossen, so ist die technische Aufgabe neu zu formulieren. Eine Aufgabe sollte also weder Lösungsansätze enthalten noch die Lösung teilweise vorwegnehmen.
Nach Auffassung der Kammer gilt dieser Grundsatz jedoch nur für die Aspekte des beanspruchten Gegenstands, die zum technischen Charakter der Erfindung beitragen und somit Teil der technischen Lösung sind. Nur deshalb, weil ein Merkmal im Anspruch vorkommt, scheidet es nicht automatisch für die Formulierung der Aufgabe aus. Insbesondere wenn der Anspruch auf eine Zielsetzung auf einem nichttechnischen Gebiet verweist, darf diese Zielsetzung bei der Formulierung der Aufgabe als Teil der Rahmenbedingungen für die zu lösende technische Aufgabe aufgegriffen werden, insbesondere als eine zwingend zu erfüllende Vorgabe.
Dementsprechend hat es die Kammer (in anderer Besetzung) in der Sache T 1053/98 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) für notwendig erachtet, die technische Aufgabe so zu formulieren, daß keine Möglichkeit besteht, eine erfinderische Tätigkeit aus rein nichttechnischen Merkmalen herzuleiten. In einer derartigen Formulierung kann die nichttechnische Seite der Erfindung als vorgegebener Rahmen aufgegriffen werden, in dem sich die technische Aufgabe stellt. Nach dem in dieser Entscheidung verfolgten Ansatz kann die technische Aufgabe unter Einbeziehung nichttechnischer Aspekte formuliert werden, unabhängig davon, ob diese neu sind oder nicht: diese nichttechnischen Aspekte sind demnach nicht als Beitrag zur Lösung der Aufgabe anzusehen.
Auch in der Sache T 931/95 - Steuerung eines Pensionssystems/PBS PARTNERSHIP (ABl. EPA 2001, 441), in der es um die erfinderische Tätigkeit bei einer Vorrichtung für eine geschäftliche Tätigkeit ging, setzte die Kammer (in anderer Besetzung) voraus, daß dem Fachmann das nichttechnische Verfahren bekannt sei, so daß zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nur die technischen Aspekte der Vorrichtung herangezogen wurden. Dieser Ansatz, im Grunde genommen eine Methode zur Interpretation des Anspruchs zwecks Bestimmung der technischen Merkmale einer Erfindung, erlaubt es, die technischen von den nichttechnischen Aspekten der Erfindung auch dann noch zu trennen, wenn diese in einem gemischten Anspruchsmerkmal eng miteinander verbunden sind.
8. Besonderer Sorgfalt bedarf schließlich auch die Bestimmung des Fachmanns. Dieser ist ein Fachmann auf einem technischen Gebiet. Bezieht sich die technische Aufgabe auf die Computerimplementierung eines Geschäfts-, eines versicherungsmathematischen oder eines Buchhaltungssystems, so handelt es sich um einen Datenverarbeitungsfachmann und nicht einfach um einen Geschäftsmann, Versicherungsmathematiker oder Buchhalter.
9. Ausgangspunkt für die Prüfung der erfinderischen Tätigkeit ist im vorliegenden Fall die Entgegenhaltung D8. Sie beschreibt Merkmale des GSM-Standards entsprechend dem 1990 erreichten Implementierungsstand und insbesondere das sogenannte Teilnehmer- Kennungsmodul SIM, das Teil der Mobilstation ist und sämtliche in den einzelnen Mobilstationen enthaltenen teilnehmerbezogenen Datenelemente speichert, wodurch das System den Teilnehmer im Netz identifizieren, authentifizieren und lokalisieren kann (siehe z. B. D8, Seiten 8/9, Nr. 3.3). Der übrige Teil der Mobilstation ist ein "universelles Gerät, das abwechselnd von verschiedenen Teilnehmern betrieben werden kann, wobei jeder sein eigenes SIM benutzt" (D8, Seite 3, vorletzter Absatz).
Der GSM-Standard umfaßt nicht nur technische, sondern auch administrative und kommerzielle Aspekte des Netzbetriebs. Insbesondere die Trennung zwischen teilnehmerbezogenen und universellen Funktionen bietet aus der Sicht des Netzbetreibers "große Flexibilität bei der Teilnehmerverwaltung" (a. a. O.). Zu den kommerziellen Aspekten der Teilnehmerverwaltung zählt u. a., daß der Netzbetreiber über die technischen und administrativen Mittel für die Abrechnung der Telefongebühren mit den einzelnen Teilnehmern verfügt, auch wenn in D8 hierauf nicht explizit eingegangen wird.
Das SIM ist im "GSM-Netzbetrieb" (D8, Seite 5, Nr. 2.3) personalisiert (d. h. einem bestimmten Teilnehmer zugeordnet) und stellt aus verfahrenstechnischer Sicht eine GSM-Anwendung dar, die dem Teilnehmer technisch den Zugang zum System ermöglicht. Die GSM- Anwendung kann eine von mehreren Anwendungen sein, z. B. wenn das SIM Teil einer multifunktionalen Chipkarte nach ISO-Norm ist, die neben der GSM-Anwendung eine Reihe anderer Anwendungen unterstützt. Auf einer solchen aktiven multifunktionalen Karte erfolgt die Auswahl der GSM-Anwendung über entsprechende Befehle (D8, Seite 1, letzter Absatz, Seite 6, dritter Absatz und Seite 9, dritter und letzter Absatz).
10. Anspruch 1 (gemäß Haupt- und Hilfsantrag) besagt, daß "dem Teilnehmer-Kennungsmodul (SIM) zumindest zwei ... Kennungen zugeteilt sind". Abb. 6 der Patentschrift zeigt jedoch eine "aktive Karte, modifiziert für die Nutzung als Teilnehmer- Kennungsmodul" mit zwei Standardmodulen (Patentschrift, Spalte 4, Zeilen 46 ff., Spalte 6, Zeilen 12 ff. und Spalte 8, Anspruch 15), die jeweils eine voll funktionsfähige GSM-Anwendung bereitstellen. Unter den im Patent verwendeten Begriff "Teilnehmer-Kennungsmodul" fällt somit auch die in der Druckschrift D8 offenbarte multifunktionale Karte mit Ausnahme des Anspruchsmerkmals, daß "zumindest zwei Kennungen" zugewiesen werden, was in der Wortwahl von D8 heißt, daß nicht nur eine, sondern mindestens zwei der von der aktiven multifunktionalen Karte unterstützten Anwendungen GSM- Anwendungen sind.
11. Laut Druckschrift D8 wird jedem einzelnen Teilnehmer- Kennungsmodul eine Kennung zugewiesen, auf der verschiedene Kenndaten basieren (u. a. die persönliche Kennungsnummer IMSI, der wiederum ein MSISDN-Verzeichniseintrag zugeordnet ist). Im Aufenthaltsregister bzw. dem Home Location Register HLR (siehe Druckschrift D8, Seite 2, Nr. 1.2) sind all diese Nummern miteinander verknüpft. Da nach dem GSM-Standard die Teilnehmerkenndaten im Standortverzeichnis des Netzes gespeichert sein müssen, aktiviert ein Benutzer, der eine GSM-Anwendung aufruft, von der Teilnehmereinheit aus automatisch und selektiv die gewünschte Kennung im Standortverzeichnis des Netzbetreibers. Einer IMSI-Kennung kann zu einem Zeitpunkt jeweils nur eine GSM- Anwendung zugewiesen sein. Anhand des der Teilnehmerkennung zugeordneten MSISDN-Verzeichniseintrags werden eingehende Anrufe automatisch der aktivierten Kennung zugeleitet, wobei die im Standortverzeichnis gespeicherten Daten maßgebend sind.
12. Im Hinblick auf den Hauptantrag der Beschwerdeführerin nimmt die Entgegenhaltung D8 demnach alle Merkmale des Anspruchs 1 außer den folgenden vorweg:
i) Dem Teilnehmer-Kennungsmodul sind zumindest zwei Kennungen zugeteilt,
ii) die wahlweise verwendbar sind, wobei
iii) die wahlweise Aktivierung zur Aufteilung der Gebühren zwischen dienstlichen und privaten Anrufen oder zwischen verschiedenen Benutzern herangezogen wird.
13. Auf welche Weise die Gebührenaufteilung erfolgt (Merkmale ii) und iii)), wird jedoch nicht als technische Funktion des Systems offenbart: Es bleibt dem Benutzer überlassen, sich für eine gewünschte Kennung zu entscheiden und diese auszuwählen, und es ist Sache des Netzbetreibers, die zusätzlichen Kenndaten in der einen oder anderen Weise zu verwenden. Die Schwierigkeiten, die überwunden werden sollen, liegen nicht in irgendwelchen technischen Aspekten des Netzes begründet. Bei dem beanspruchten Verfahren zur Gebührenverrechnung handelt es sich vielmehr um ein finanzielles und administratives Konzept, das als solches nicht die Anwendung technischer Fähigkeiten und Kompetenzen erfordert und auf administrativer Ebene keine Lösung einer technischen Aufgabe beinhaltet. Technische Aspekte kommen erst bei der Implementierung eines derartigen Verfahrens im GSM-System zum Tragen. Mit anderen Worten: Das beanspruchte Konzept der wahlweisen Aufteilung der Gebühren zwischen dienstlichen und privaten Anrufen oder zwischen verschiedenen Benutzern trägt als solches nicht zum technischen Charakter der Erfindung bei.
14. Gemäß der in der Patentschrift genannten Aufgabenstellung sollen mit der Erfindung die Schwierigkeiten behoben werden, die bei der Aufteilung der Gebühren zwischen dienstlichen und privaten Anrufen oder zwischen verschiedenen Benutzern entstehen (siehe z. B. Spalte 1, Zeilen 45 ff.). Eine technische Aufgabe ist in dieser Formulierung jedoch nicht zu erkennen. Um zur technischen Aufgabe zu gelangen, muß die genannte Aufgabenstellung dahingehend umformuliert werden, daß eine Implementierung des GSM-Systems angestrebt wird, die es dem Benutzer erlaubt, zwischen Anrufen zu unterschiedlichen Zwecken oder Anrufen verschiedener Benutzer zu unterscheiden. Realistischerweise würde der Techniker ja im Rahmen seiner Auftragsinformationen darüber, welche Dienste für den Kunden zu erbringen sind, Kenntnis vom Konzept der Gebührenzuordnung erhalten.
15. Aus D8 ist dem Fachmann, d. h. dem Fachmann auf dem Gebiet der GSM-Systeme, bekannt, daß vor der Bewilligung des Zugangs zum GSM- Netz die Mobilstation zunächst durch ein Teilnehmer-Kennungsmodul mit der IMSI-Nummer personalisiert werden muß, die das Konto für die anfallenden Telefongebühren festlegt. Damit zwischen Telefonanrufen, die von ein und derselben Mobilstation aus getätigt werden, unterschieden werden kann, müssen mehrere IMSI- Nummern zugewiesen werden, oder anders ausgedrückt: Es muß die entsprechende Zahl von GSM-Anwendungen implementiert werden (Merkmal i)). Für dieses technische Erfordernis findet der Fachmann eine Lösung in D8 (a. a. O.): Verwendung einer aktiven multifunktionalen Karte mit den notwendigen Befehlen für die Wahl der gewünschten Anwendung (Merkmal ii)) und somit der gewünschten Kennung, die in einem GSM-System für die Gebührenerhebung genutzt werden kann.
Schließlich sind sämtliche technischen Überlegungen, die mit der Implementierung der spezifischen Nutzung gemäß Merkmal iii) im GSM- System verbunden sein könnten, unmittelbar aus dem Stand der Technik herleitbar. Beim GSM-System werden die Gebühren derjenigen Kennung zugeordnet, die für den Anruf benutzt wird, was in der beanspruchten Erfindung genauso ist. Das Streitpatent offenbart bzw. beansprucht keine neue Methode der Gebührenerhebung, es weist einem Teilnehmer lediglich mehrere Kennungen zu, zwischen denen gewählt werden kann, was aber - wenn überhaupt - nur geringfügige Änderungen am Standortverzeichnis des Netzes erforderlich macht. Nach Auffassung der Kammer beruhen derartige Überlegungen nicht auf einer schöpferischen Leistung in technischer Hinsicht und können daher keinen Beitrag zur erfinderischen Tätigkeit leisten.
Folglich ist die beanspruchte Erfindung, soweit sie technischen Charakter aufweist, im Lichte der Lehre von D8 naheliegend, weshalb das Verfahren nach Anspruch 1 das Patentierbarkeitserfordernis der erfinderischen Tätigkeit nicht erfüllt (Art. 52 (1) und 56 EPÜ).
16. Anspruch 1 des Hilfsantrags beinhaltet das zusätzliche Merkmal, daß "- gesteuert durch die Daten im Standortverzeichnis - ein eingehender Ruf der aktivierten Kennung zugeleitet wird". Da jedem Teilnehmer-Kennungsmodul ein MSISDN-Verzeichniseintrag zugewiesen wird (s. o.), ist dieses Anspruchsmerkmal bereits in einem standardmäßigen GSM-System verwirklicht und ändert somit nichts an der Formulierung der technischen Aufgabe oder an der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit, so daß die oben angeführten Gründe für die mangelnde erfinderische Tätigkeit in bezug auf den Hauptantrag auch für den Hilfsantrag gelten.
17. Zusammenfassend ist festzustellen, daß die im Haupt- bzw. Hilfsantrag beanspruchte Erfindung das Erfordernis der erfinderischen Tätigkeit nicht erfüllt, was der Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage der beantragten Änderungen entgegensteht. Der Antrag der Beschwerdeführerin, die Angelegenheit an die erste Instanz zurückzuverweisen, falls das Dokument EP-B-0 344 989 für die Patentierbarkeit als relevant angesehen werde, geht ins Leere, da das Dokument für die Beschwerde nicht entscheidungserheblich ist.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.