7.2.4 Neuheit der therapeutischen Anwendung
Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern kann die Behandlung derselben Krankheit mit demselben Stoff bei einer bestimmten Gruppe von Individuen dennoch als neue therapeutische Anwendung angesehen werden, sofern sie an einer neuen Gruppe von Individuen vorgenommen wird, die sich von der früheren Gruppe durch ihren physiologischen oder pathologischen Zustand unterscheidet (s. T 19/86, ABl. 1989, 24, T 893/90, T 233/96, T 1399/04, T 734/12).
In T 19/86 (ABl. 1989, 25) hatte die Kammer darüber zu befinden, ob die Anwendung eines bekannten Arzneimittels zur prophylaktischen Behandlung derselben Krankheit bei einer Tierpopulation derselben Art, die aber immunologisch anders reagiert, als neue therapeutische Anwendung beansprucht werden kann. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass die Frage, ob eine neue therapeutische Verwendung den Vorgaben der Entscheidung G 1/83 entspricht, nicht nur aufgrund der zu behandelnden Krankheit, sondern auch aufgrund der Art des zu behandelnden Subjekts (im vorliegenden Fall einer neuen Gruppe von Ferkeln) entschieden werden muss. Eine therapeutische Anwendung ist unvollständig, wenn das zu behandelnde Subjekt nicht bezeichnet wird; eine technische Lehre ist nur dann vollständig, wenn sowohl die Krankheit als auch das zu behandelnde Subjekt offenbart werden. Die in der Anmeldung vorgeschlagene Lösung, Tieren zum Schutz vor einer Krankheit, gegen die sie vorher nicht geschützt werden konnten, ein bekanntes Serum intranasal zu verabreichen, kann nicht als bekannt angesehen werden und stellt somit eine neue therapeutische Anwendung im Sinne der Entscheidung G 1/83 dar.
In T 233/96 vertrat die Kammer die Ansicht, dass, wenn die Verwendung einer Zusammensetzung für die Behandlung oder Diagnose einer Erkrankung bei einer bestimmten Gruppe von Individuen bekannt sei, die Behandlung oder Diagnose der gleichen Erkrankung mittels der gleichen Zusammensetzung auch eine neue therapeutische oder diagnostische Anwendung darstellen könne, vorausgesetzt, dass sie an einer anderen Gruppe von Individuen vorgenommen wird, die sich physiologisch oder pathologisch von der ersten Gruppe unterscheide (T 19/86, ABl. 1989, 25; T 893/90). Dies gelte jedoch nicht, wenn es zwischen der gewählten Gruppe und der zuvor behandelten Gruppe Überlappungen gibt oder wenn die neue Gruppe willkürlich gewählt wurde, d. h., dass zwischen den physiologischen oder pathologischen Bedingungen dieser Gruppe von Individuen (hier Menschen mit eingeschränkter Bewegungsmöglichkeit) und der erzielten therapeutischen oder pharmakologischen Wirkung kein Zusammenhang besteht.
In T 694/16 entschied die Kammer wie folgt: Wenn ein Anspruch auf eine bekannte Verbindung oder Zusammensetzung zur Verwendung in einem therapeutischen Verfahren zur Behandlung oder Prävention einer Krankheit gerichtet ist und der Anspruch besagt, dass der zu behandelnde Patient einen klar definierten und nachweisbaren Marker aufweist, den nicht alle Patienten aufweisen, die die Krankheit haben oder wahrscheinlich entwickeln werden, dann ist die gezielte Auswahl der den Marker aufweisenden Patienten für die besagte Behandlung ein funktionales Merkmal, das den Anspruch charakterisiert. Bei einer technisch sinnvollen und konstruktiven Lektüre des Anspruchs würde der Fachmann sofort verstehen, dass die Behandlung den Zweck hat, selektiv auf Prodromalpatienten abzuzielen, die durch CSF-Marker identifiziert wurden, und nicht auf andere Patienten, die die Marker nicht aufweisen. Das heißt, es besteht ein funktionaler Zusammenhang zwischen den die Patienten charakterisierenden Markern und der angestrebten therapeutischen Wirkung. Das Vorliegen dieses funktionalen Zusammenhangs bestätigt, dass die gezielte Auswahl von Patienten ein wesentliches technisches Merkmal ist, das den Anspruch charakterisiert. Das ist bei der Beurteilung der Neuheit zu berücksichtigen.
In T 1991/17 war eine Verbindung zur Verwendung bei der Behandlung oder Vorbeugung von mit Osteopenie assoziierten Knochenstoffwechselerkrankungen durch Induktion von Osteogenese beansprucht worden. Der Beschwerdegegner hatte sich auf zwei Aspekte gestützt, die eine neue spezifische Verwendung einer bekannten Verbindung in einem Behandlungsverfahren darstellen würden: 1) die Formulierung "durch Induktion von Osteogenese" als technische Wirkung und 2) die Subkategorie von zu behandelnden Patienten, die anhand dieser technischen Wirkung unterschieden wurde. Die Formulierung "durch Induktion von Osteogenese" war nicht Teil der Definition der Krankheit, sondern charakterisierte die Behandlung der Krankheit. Es stellte sich die Frage, ob dies als bloße mechanistische Erklärung der Behandlung anzusehen war oder ob dieses Merkmal die Behandlung mit einer physiologischen Wirkung verknüpfte, die zur Begründung der Neuheit geeignet war. Die Kammer befand, dass das Streitpatent Informationen zu einer neuen Wirkungsweise des Peptids D, einer der beanspruchten Verbindungen, enthielt. Diese Wirkungsweise war eng und untrennbar mit der bekannten Aktivität des Peptids D zur Hemmung von Knochenresorption verbunden. Es wurde kein Nachweis für eine vollständige Entkoppelung dieser beiden Aktivitäten erbracht. Die beanspruchte Verwendung konnte von der bekannten Verwendung des Peptids D nicht unterschieden werden. Die technische Wirkung der Induktion von Osteogenese war daher nicht geeignet, eine neue spezifische Verwendung darzustellen.
In T 2232/17 konnte die Kammer keinen Beweis dafür erkennen, dass sich steroidabhängige MS-Patienten in ihrem physiologischen oder pathologischen Zustand von der allgemeinen Gruppe von MS-Patienten unterschieden, insbesondere im Hinblick auf ihre Eignung für die Behandlung mit Natalizumab. Das Patent enthielt keine Daten zur Behandlung von MS-Patienten mit Steroiden und/oder Natalizumab. Darüber hinaus war selbst bei der Annahme, dass das Patent eine Subkategorie von "steroidabhängigen" Patienten offenbarte, keine besondere therapeutische oder pharmakologische Wirkung von Natalizumab für diese Subkategorie in dem Patent offenbart.