1.6.2 Auswahl aus zwei Listen – Herausgreifen einer Kombination von Merkmalen
i) Kombination in der Anmeldung in der eingereichten Fassung nicht individualisiert – Beispiele
In T 686/99 vertrat die Kammer die Auffassung, dass die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung auf undifferenzierte Weise verschiedene Kategorien von Basisölen offenbare, ohne einen Hinweis für die Auswahl einer bestimmten dieser Kategorien zu geben. In der ursprünglichen Gruppe von Basisölen wurde den Esterölen kein Vorrang eingeräumt. Die Kammer kam daher zu dem Schluss, dass die in Anspruch 1 enthaltene Kombination eines Basisöls, das zwangsweise Esteröle umfasse, mit den in Anspruch 1 aufgeführten Fluorkohlenwasserstoffen das Ergebnis einer Mehrfachauswahl aus zwei Gruppen alternativer Merkmale sei, nämlich der Auswahl der Esteröle aus der Gruppe der Basisöle und der Auswahl der Fluorkohlenwasserstoffe aus der Gruppe der Kältemittel, wodurch eine bestimmte neue Kombination geschaffen werde. In Ermangelung eines wie auch immer gearteten Hinweises auf eine bestimmte Kombination sei diese Mehrfachauswahl von Merkmalen für den Fachmann nicht unmittelbar und eindeutig aus dem Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ableitbar gewesen.
In T 714/08 war Anspruch 1 des Hauptantrags so geändert worden, dass die erste Oxidationsbase auf das Paraphenylendiamin und die Liste der Kuppler auf 12 Verbindungen beschränkt wurden. Diese spezifische Kombination des Paraphenylendiamins mit jedem der 12 Kuppler konnte nicht unmittelbar und eindeutig aus der Anmeldung in der eingereichten Fassung abgeleitet werden. Die Kammer ließ das Argument nicht gelten, wonach das Paraphenylendiamin in der Anmeldung in der eingereichten Fassung bereits als bevorzugte erste Oxidationsbase individualisiert sei. Laut Kammer bezog sich die zitierte Passage ausschließlich auf ein konkretes Beispiel. Dieser Fall unterschied sich von den Fällen, die in Substituenten-Listen für Markush-Formeln vorgenommene Beschränkungen betreffen (s. T 615/95 oder T 50/97; siehe die Zusammenfassungen in diesem Kapitel unter II.E.1.6.3). In diesen Fällen führten die Beschränkungen nämlich nicht zur Individualisierung bestimmter Kombinationen wie im vorliegenden Fall, sondern bewahrten die generische Natur der chemischen Formel, die die beanspruchten Erzeugnisse definierte.
In T 407/10 stimmte die Kammer zunächst dem Beschwerdeführer darin zu, dass zwar beispielsweise die Kombination von zwei ursprünglich nur in Listen gleichwertiger Alternativen offenbarten Merkmalen in der Regel als Verstoß gegen Art. 123 (2) EPÜ gilt, es aber andere Merkmalskombinationen geben kann, die – obwohl nicht explizit in der Anmeldung in der eingereichten Fassung offenbart – aus einem (expliziten oder impliziten) Hinweis darauf abgeleitet werden können. Sind zum Beispiel bestimmte Merkmale in der ursprünglichen Anmeldung als bevorzugt offenbart, so ist dies ein Hinweis für den Fachmann, weil eine Kombination der bevorzugten Merkmale offensichtlich die beste Möglichkeit bietet, die mit der Erfindung beabsichtigte technische Wirkung zu erzielen (s. z. B. T 68/99). Nach der Rechtsprechung wird jedoch die Kombination aus einem ursprünglich nicht als bevorzugt offenbarten Merkmal und zahlreichen weiteren, auf bevorzugten Merkmalen beruhenden Einschränkungen nicht als Änderung betrachtet, die mit Art. 123 (2) EPÜ vereinbar ist.
In T 775/17 hob die Kammer (mit Verweis u. a. auf T 407/10) hervor, dass nach der gängigen Rechtsprechung die Kombination aus einem ursprünglich nicht als bevorzugt offenbarten Merkmal und zahlreichen weiteren, auf bevorzugten Merkmalen beruhenden Einschränkungen nicht als Änderung betrachtet wird, die mit Art. 123 (2) EPÜ vereinbar ist.
In T 1799/12 hielt die Kammer fest, dass die Rechtsprechung sowie die Entscheidung T 407/10 zutreffend auf weitere Umstände verweisen, die zu berücksichtigen sind, wie Hinweise auf die betreffende Auswahl bzw. Kombination in der Beschreibung und den Beispielen, etwa die Tatsache, dass die fraglichen Merkmale in der Beschreibung als "bevorzugt" erwähnt werden. Im Gegensatz dazu gab es im vorliegenden Fall keinen Hinweis auf die Wahl einer rechteckigen oder quadratischen Form der Grundwand, sondern einen klaren entgegengesetzten Hinweis auf Formen der Grundwand ohne Ecken ("im Allgemeinen kreisrund" bzw. "oval").
In T 2273/10 brachte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) vor, dass Anspruch 1 keine Auswahl aus mehreren Listen darstelle, sondern eine Kombination der bevorzugten Merkmale der Erfindung. Die Kammer teilte diese Auffassung nicht: Für jedes der drei Merkmale waren in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung mehrere Möglichkeiten offenbart. Um zum beanspruchten Wortlaut zu gelangen, musste der Fachmann eine Auswahl aus mehreren Listen treffen. Zudem bezog sich diese Auswahl auf bevorzugte Merkmale ebenso wie auf nicht bevorzugte Merkmale.
Auch in T 1150/15 wies die Kammer den Ansatz des Patentinhabers, die bevorzugten Optionen für jeden der auf Seite 75 offenbarten Substituenten Y, X und Z zu kombinieren, die bevorzugte Option für RB im selben Kontext aber nicht zu berücksichtigen und sie mit einer aus der allgemeinsten Liste von Optionen für den Substituenten A herausgegriffenen Definition zu kombinieren, als willkürlich zurück. Für die Kammer war der Fall anders gelagert als die Sache T 615/95 (s. Kapitel II.E.1.6.3 unten).
In T 1259/16 war die beanspruchte Kombination der Merkmale, die die beanspruchte Lösung charakterisierten – "frei von freiem Brom" und "weniger als 100 ppm Metallionenverunreinigungen" – in der eingereichten Fassung der Anmeldung nicht explizit offenbart. Die Kammer befand, dass die Listen, die sich auf den Gehalt an freiem Brom und Metallionenverunreinigungen bezogen, voneinander vollständig unabhängig waren. Die verschiedenen Gehalte an freiem Brom und Metallionenverunreinigungen seien gleichermaßen geeignete Alternativen. Der Fachmann würde bei der Lektüre der Anmeldung nicht erkennen, dass die niedrigeren Werte zwangsläufig die bevorzugten seien, da die Reduzierung von Verunreinigungen auf den niedrigstmöglichen Gehalt sowohl unpraktisch als auch unökonomisch sei. Die beanspruchte Kombination verstoße daher gegen Art. 123 (2) EPÜ.
In der Sache T 1476/15 gab es nach Auffassung der Kammer in der Patentanmeldung weder eine explizite noch eine implizite, aber dennoch unmittelbare und eindeutige Offenbarung, die besagte, dass die Konzentrationsbereiche für die betreffenden Elemente (Polyamine und aus Pflanzen und Hefe abgeleitetes Proteinhydrolysat) hierarchisch und parallel zu lesen seien und die parallelen Stellen in der jeweiligen Reihe von fünf immer stärker bevorzugten Ausführungsformen dieser beiden Listen kombininiert würden. Selbst bei Berücksichtigung der Beispiele konnte die Kammer nicht ermitteln, warum die spezifischen, im Anspruch genannten Konzentrationsbereiche kombiniert werden sollten. Diese Schlussfolgerung entsprach der in T 1511/07 geäußerten Auffassung.
Auch in T 1465/15 konnte die Kammer keinen Anhaltspunkt für die beanspruchte Kombination (eines bevorzugten Bereichs von Sojahydrolysat mit einem zu exprimierenden Zielprotein) sehen; aus der relevanten Liste der konvergierenden Alternativen von Konzentrationsbereichen ließ sich keine Präferenz für die beanspruchte Kombination gegenüber den übrigen Kombinationen ableiten.
ii) Kombination in der Anmeldung in der eingereichten Fassung individualisiert – Beispiele
In T 45/12 war die Kammer der Auffassung, dass die Kombination von Pioglitazon mit Glimepirid in der eingereichten Fassung der Ursprungsanmeldung herausgestellt wurde. In der Beschreibung der Ursprungsanmeldung in der eingereichten Fassung sei Pioglitazon durchweg als der meistbevorzugte Sensitivitätsverstärker zur Verwendung in Kombination mit einem anderen antidiabetischen Mittel offenbart worden. Glimepirid sei ein spezifisches antidiabetisches Mittel, das zur Verwendung als zweite Komponente in der Zusammensetzung offenbart worden sei. Selbst unter der Annahme, dass die Zusammensetzung mit Pioglitazon und Glimepirid eine Auswahl (unter den spezifischen, zur Kombination mit Pioglitazon offenbarten antidiabetischen Mitteln) erforderlich machen würde, sei diese eindimensionale Auswahl somit keine unzulässige Erweiterung.
In T 1032/12 wies die Kammer das Argument des Beschwerdeführers zurück, das beanspruchte Polypeptid sei durch zwei aus zwei voneinander unabhängigen Listen ausgewählte Merkmale definiert. Nach Auffassung der Kammer wurde aber im vorliegenden Fall das Protein SEQ ID NO:2 als besonders bevorzugtes Polypeptid herausgegriffen: Immer wenn Fragmente als bevorzugte Sequenzen genannt wurden, wurden diese als "besonders bevorzugte Fragmente" bezeichnet. Bei der Bezugnahme in der Beschreibung auf "das bevorzugte Polypeptid" handelte es sich daher um eine Bezugnahme auf das Polypeptid SEQ ID NO:2. Wegen dieser spezifischen Erwähnung des ganzen Moleküls als besonders bevorzugtes Molekül war dieser Fall anders gelagert als die vom Beschwerdeführer angeführte Sache T 583/09, wo verschiedene Moleküle als gleichwertige Alternativen genannt wurden.
In T 1402/14 befand die Kammer, dass sich die Situation im vorliegenden Fall von der in T 1511/07 (s. oben Punkt a) unterschied, wo die Kammer entschieden hatte, dass die Anmeldung in der eingereichten Fassung keine Hinweise darauf enthielt, zwei Bereiche mit unterschiedlichen Bevorzugungsebenen zu kombinieren. Im vorliegenden Fall lagen die kombinierten Bereiche auf derselben Bevorzugungsebene (breiteste Definition jedes Bereichs). Nach Auffassung der Kammer enthielt deshalb Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 keinen Gegenstand, der über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinausging.
Eine weitere Entscheidung, in der die Auswahl bereits als bevorzugt offenbart angesehen wurde, ist T 2723/16.