1.6. Kombination von Merkmalen aus einzelnen Ausführungsformen oder Listen
In T 1362/15 musste die Kammer entscheiden, ob Art. 123 (2) EPÜ die Aufnahme der Merkmale mehrerer abhängiger Ansprüche in einen unabhängigen Anspruch erlaubt, wenn die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung einen Anspruchssatz mit Abhängigkeiten im US-Stil (d. h. mit abhängigen Ansprüchen, die sich einzeln auf den unabhängigen Anspruch beziehen) sowie eine Ausführungsform enthält, in der die Merkmale des unabhängigen Anspruchs und der abhängigen Ansprüche kombiniert sind – wenngleich mit noch weiteren Merkmalen. Der Beschwerdeführer hatte eine Vorlage von Fragen zu diesem Sachverhalt an die Große Beschwerdekammer beantragt und auf angeblich divergierende Rechtsprechung verwiesen. Die Kammer hielt diese Vorlage unter anderem aus folgendem Grund nicht für gerechtfertigt: Die Große Beschwerdekammer hat die notwendigen und hinreichenden Kriterien zur Beurteilung der Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ unter anderem in G 2/98 (ABl. 2001, 413) und G 2/10 (ABl. 2012, 376) bereits klar definiert. Demnach muss der Fachmann der Gesamtheit der Anmeldung in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens – objektiv und bezogen auf den Anmeldetag – den beanspruchten Gegenstand unmittelbar und eindeutig entnehmen können. Diese Kriterien gelten unabhängig von der konkreten Abhängigkeitsstruktur der ursprünglich eingereichten Ansprüche. Die Kammer analysierte die angeblich voneinander abweichenden Entscheidungen T 2619/11 und T 1414/11 und kam zu dem Schluss, dass beide Entscheidungen auf denselben Kriterien basieren und sich nicht widersprechen. Bezüglich der Abhängigkeitsstruktur im US-Stil stellte die Kammer fest, dass es für die möglichen Merkmalskombinationen in den Ansprüchen einer US-Anmeldung gemäß 35 U.S.C. 112 keine unüberwindliche Beschränkung gibt. Die Kammer lehnte den Antrag auf Vorlage ab und entschied, dass der strittige Gegenstand über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinausging.
In T 895/18 argumentierte der Beschwerdeführer (Patentinhaber), dass die Anmeldung typisch für viele im US-Stil abgefasste Anmeldungen für neue und erfinderische Zusammensetzungen und deshalb so zu lesen sei, dass sie auch Kombinationen von Merkmalen abhängiger Ansprüche offenbare, die nicht voneinander abhängig seien. Die Kammer wies diesen Ansatz zurück, weil es im EPÜ keine Rechtsgrundlage dafür gebe, die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ im Hinblick auf einen bewusst gewählten Stil der Abfassung anders anzuwenden.