8.2.2 Mehrheitliche Rechtsprechungslinie
Das geltende Recht wurde insbesondere in zwei Entscheidungen nachdrücklich bekräftigt, in denen im Anschluss an Analyse und Zusammenfassung der bisherigen Rechtsprechung die heutige Lösung formuliert wurde, nämlich T 1811/13 (in englischer Sprache - Mangel an Klarheit vs. unzureichende Offenbarung) und T 647/15 (in französischer Sprache). Zusätzlich sei als Beispiel einer deutschsprachigen Entscheidung auf T 548/13 hingewiesen.
Diese Entscheidungen sind nicht die ersten (s. z. B. T 2290/12), in denen die heute mehrheitlich von der Rechtsprechung angewandte Lösung benannt wird. Hier sei jedoch auf den Wortlaut der beiden vorgenannten Entscheidungen verwiesen.
Diese Lösung ist wie folgt formuliert: "In den Beschwerdekammern besteht heute Konsens oder zumindest eindeutig die vorherrschende Meinung, dass die Definition des 'verbotenen Schutzbereichs' eines Anspruchs nicht im Zusammenhang mit Art. 83 EPÜ gesehen werden sollte." Die Kammer führte weiter aus: "Dies heißt nicht, dass ein Klarheitsmangel keine unzureichende Offenbarung der Erfindung zur Folge haben könnte. In einem solchen Fall reicht die Feststellung jedoch nicht aus, dass die Anmeldung bzw. das Patent die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann. Anders ausgedrückt genügt es im Allgemeinen nicht, zur Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 83 EPÜ 1973 mangelnde Klarheit der Ansprüche nachzuweisen; vielmehr muss nachgewiesen werden, dass die Patentschrift als Ganzes (d. h. nicht nur die Ansprüche) unklar ist und es dem Fachmann nicht ermöglicht, die Erfindung unter Heranziehung der Beschreibung und seines allgemeinen Fachwissens auszuführen."
Wie bereits erwähnt, sind diese Entscheidungen nicht die ersten, in denen die heute angewandte Lösung benannt wird. Im Folgenden finden sich Beispiele für Entscheidungen vor T 1811/13, die die mehrheitliche Rechtsprechungslinie verfolgen: T 1948/10, T 608/12, T 2331/11, T 1507/10, T 943/00, T 960/98, T 619/00, T 396/02, T 1033/02, T 452/04, T 466/05, T 1586/05, T 1015/06, T 1250/08, T 593/09, T 1507/10, T 2331/11, T 2290/12, T 647/15, T 548/13, T 466/05, T 2290/12, T 1886/06, T 1608/13, T 608/07.
Die Entscheidung T 608/07 (verborgener Einwand) wird in der Rechtsprechung – auch in der neueren – häufig angeführt (s. insbesondere Nr. 2.5.2 der Gründe), z. B. in T 786/15 (Tg-Parameter – Mehrdeutigkeit im Randbereich der Werte), T 1627/17, T 1768/15, T 1960/14 (Schmelzpunkte einer Palmöl-Fraktion); T 1608/13 (Bestimmung des Siebkoeffizienten), T 1285/15 (Beispiel eines verborgenen Klarheitseinwands); T 593/09 (unter Verweis auch auf T 815/07 und Kirin-Amgen Inc v. Hoechst Marion Roussel Ltd [2004] UKHL 46 des britischen House of Lords). In T 593/09 (ungenau definierter Parameter) heißt es (s. Orientierungssatz und Nr. 4.1.4 der Gründe) insbesondere, dass es entscheidend für die Feststellung einer unzureichenden Offenbarung im Sinne von Art. 83 EPÜ ist, ob der Parameter in dem konkreten Fall so ungenau definiert ist, dass es dem Fachmann nicht möglich ist, anhand der Offenbarung als Ganzes und mit Hilfe seines allgemeinen Fachwissens (ohne unzumutbaren Aufwand) die zur Lösung der patentgemäßen Aufgabe erforderlichen technischen Maßnahmen (z. B. Auswahl geeigneter Verbindungen) zu identifizieren. Die Entscheidung T 593/09 (wesentlicher Parameter für die Herstellung des Erzeugnisses) wird ihrerseits noch in der neueren Rechtsprechung sehr häufig angeführt, z. B. in T 1305/15 (Zetapotenzial einer Hohlfasermembran – gravierender Mangel an Informationen bezüglich des ZP-Messverfahrens – ungenau definierter Parameter nicht zuverlässig messbar – Erfordernisse von Art. 83 EPÜ nicht erfüllt); T 1526/09 (ungenaue Definition des Parameters beeinträchtigt die Klarheit, aber verhindert nicht die Nacharbeitung des beanspruchten Erzeugnisses); T 2403/11, T 786/15.
Beispiele für Entscheidungen nach T 1811/13, in denen diese mehrheitliche Meinung geteilt wird: T 1900/17, T 2319/14, T 417/13, T 548/13.
In der Entscheidung T 646/13 ging es um einen Antrag auf Befassung der Großen Beschwerdekammer wegen Divergenzen in der Rechtsprechung zwischen T 1811/13 und T 464/05, der in T 646/13 mit der Begründung zurückgewiesen wurde, dass es sich vielmehr um eine Weiterentwicklung der Rechtsprechung handle.
In T 626/14, die der Entscheidung T 464/05 folgt, wurden auch T 1811/13 und T 464/05 erörtert. Laut T 250/15 stellt T 626/14 die mit T 1811/13 bestätigte Rechtsprechung nicht infrage. In T 250/15 wurde die Vorlage an die Große Beschwerdekammer zurückgewiesen. Die Kammer in T 250/15 war der Ansicht, dass T 626/14 und T 464/05 eine bestimmte Konstellation in einem bestimmten technischen Gebiet betrafen.
In T 1845/14 kritisierte die Kammer den Ansatz einiger Entscheidungen im Hinblick auf die Definition des Erfindungsbegriffs im Rahmen der Beurteilung von Art. 83 EPÜ. In T 1845/14 wird auf die Begründung in T 593/09, T 815/07, T 172/99 und T 608/07 verwiesen und festgestellt, dass der Ausdruck "Versprechen der Erfindung" im Lichte der in T 608/07 angeführten Entscheidung Zipher Ltd v. Markem Systems Ltd zwar als Hinweis in der Beschreibung des Patents auf die technischen Vorteile des beanspruchten Gegenstands verstanden werden könnte, diese Entscheidung des High Court (UK) jedoch klarmacht, dass das Nichterfüllen des "Versprechens der Erfindung" eher eine Frage der erfinderischen Tätigkeit ist. T 409/17 behandelt T 1845/14 und T 593/09.